2021, Joseph Beuys und die Schamanen

2021, Came and had to leave, banished again

2021, Kam und musste gehen, wieder fortgebannt

Project at the Museum Schloss Moyland, Bedburg-Hau, 02.05. – 29.08. 2021


Schamanismen in der zeitgenössischen Kunst

In der heutigen (vermeintlich) aufgeklärten Gesellschaft wird häufig derjenige, der noch an ‚mystische Wahrheiten‘ – sprich Esoterik, Geheimlehren – glaubt und danach agiert, als mehr oder weniger geistig labil oder vielmehr ‚verrückt‘ angesehen.  ‚Verrückt‘ im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich aus der Mitte verschoben beziehungsweise versetzt, das heißt, ob freiwillig oder gezwungenermaßen am Rande der Gesellschaft existierend. Von der Peri- pherie aus hat man jedoch logischerweise einen besseren Überblick auf das, was in der Mitte geschieht. Von dort aus kann man durchaus besondere Einblicke bekommen. Und wenn man nicht wahnsinnig im Sinne von ‚ohne jede Vernunft‘ ist und sich selbst dennoch freiwillig und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte an den Rand – keinesfalls außerhalb! – der Gesellschaft versetzt beziehungsweise verrückt, kann man die dort gewonnenen Einblicke nutzen, um gesellschaftliche Missstände und gar ‚Krankheiten‘ im weitesten Sinne auszumachen und zu analysieren, um daraus Lösungsansätze zu erarbeiten.

Ob mit visuellen Referenzen und Versatzstücken arbeitend oder aus Überzeugung, Verehrung oder gar Ironie in eine besondere Rolle schlüpfend, greifen zahlreiche Künstler der westlichen Nachkriegs- und Gegenwartskunst immer wieder und konsequent auf den Typ des (vor allem, aber nicht ausschließlich, eurasischen) Schamanen zurück und schlagen somit eine Brücke zwischen Kunst und Ethnologie. Die künstlerischen Ansätze sind vielfältig und heterogen – und dennoch sind Parallelen und Verwandtschaften zu entdecken. Im Folgenden werden sechs Künstler vorgestellt, die sich dem Thema ‚Schamanismus‘ beziehungsweise der Figur des Schamanen auf jeweils unterschiedlichste Weise annähern und somit den Kunst- begriff im Sinne des Urvaters des Künstler-Schamanen Joseph Beuys (1921–1986) öffnen und erweitern. Auf diese Weise wird das Beuys’sche Ideal einer wirkungsmächtigen, gesellschafts- relevanten Sozialen Plastik aktualisiert und in das 21. Jahrhundert weitergetragen.

Nach den Ausführungen des rumänischen Religionswissenschaftlers und Philosophen Mircea Eliade (1907–1986) ist der Schamane ein ‚kranker‘ Mensch, wobei es sich hierbei in der Regel nicht um eine physische Malaise handelt, sondern vielmehr um einen psychischen Zustand, bei dem der Betroffene sich vom Alltagsleben abwendet. Von dem werdenden Schamanen wird erwartet, dass er sich selbst von seiner Krankheit heilt. Erst durch die Selbstheilung wird er dann in die Lage versetzt, auch andere zu heilen. Darüber hinaus, und hier von besonderer Relevanz, beschreiben neben Eliade auch andere Forscher den Schamanen als ‚Dichter‘ oder ‚Künstler‘ – nicht nur, weil Kreativgeister seit spätestens Ende des 19. Jahrhunderts häufig ebenfalls als Außenseiter und in einzelnen Fällen auch als ‚krank‘ angesehen werden, sondern weil der Schamane wie der Künstler seine gesammelten Einblicke zur Steigerung der eigenen Kreativität und somit seiner eigenen Effektivität verwendet.

Rites de passage – Übergangsriten

Für die Ausstellung Joseph Beuys und die Schamanen im Museum Schloss Moyland hat der in Köln ansässige russische KünstlerIgor Sacharow-Ross (*1947 in Chabarowsk, Russland) die raumgreifende, mehrteilige Installation Kam und musste gehen, wieder fortgebannt konzipiert. Gegenüber einem monumentalen, wandfüllenden Grafitbild mit einem gemalten Embryo im mittleren Bereich hängt ein riesiges, keilartiges Element unter der Decke, bestehend aus einem großen, mit hölzernen, teils mit Grafit bedeckten keilförmigen Objekt mit integriertem Raumklang. Dazwischen an der Seitenwand hängt ein Vorhang aus Grafitfilz, der von einem Baumstamm mit einem Relief aus Glasplättchen durchbrochen wird, unter denen eine „geheimnisvolle Substanz“ lagert.  Wenngleich von Ästhetik und Material her eher an die minimalistischen Werke eines Robert Morris (1931–2018) erinnernd, weist die Installation in der Anmutung dennoch eine enge Verwandtschaft mit Werken von Joseph Beuys auf, bei denen das Material ebenfalls eine herausragende, teils der Vorstellung des Künstlers nach mit Heilungsprozessen verbundene Rolle spielte.

Sacharow-Ross erklärt die symbolische Bedeutung des Grafits und die Nähe zu Beuys wie folgt: „Grundgedanke ist der Ideenkreis von Geburt, Tod und Wiedergeburt, in dem […] dem Graphit die Rolle zufällt, negative Energie zu binden. Dieser Vorgang spielt eine wichtige [Rolle] in der Heilkunde. Und in der Heilkunde sehe ich naturgemäß die große Ähnlichkeit zwischen meinem Werk und dem von Beuys. Mit der besonderen Pointe, dass wir beide das schamanistische Erleben mit der Zukunft des Menschengeschlechts zusammenbringen, historische und biographische Wunden in unseren Werken thematisieren und auf eine Veränderung im Fühlen und Denken der Menschen schöpferisch hinwirken.“  Gleichzeitig deutet der Vorhang auf rites de passage hin, ein ethnologisches Konzept, das den (meist spirituell begleiteten) Übergang von einem Lebensstadium zum nächsten beziehungsweise von einem sozialen Zustand zum anderen beschreibt. Dies kann sich auf die Pubertät – den Übergang zwischen Kindheit und Erwachsenendasein – beziehen (in der jüdisch-christlichen Tradition als Firmung, Konfirmation oder Bar beziehungsweise Bat Mitzwa gefeiert) oder auch auf den ‚endgültigen‘ Übergang zwischen Diesseits und Jenseits, Leben und Tod. Obwohl das große Grafitbild durch die dunkle Farbgebung und die Aufteilung in einzelne ‚Fächer‘ bei manchen Betrachtern Vorstellungen von Grabkammern evozieren dürfte, ist das gemalte Embryo eindeutig ein Zeichen von neu erschaffenem Leben. Sacharow-Ross strebt mit der Installation eine „transfigurative Raumerfahrung“ an, bei der „die Besucher eine Erfahrung machen, in der sie ihre Einstellung zu Leben und Tod überprüfen können“.

Wie Beuys schöpft auch Sacharow-Ross häufig aus der eigenen persönlichen Geschichte. Geboren und aufgewachsen in Chabarowsk, Ostsibirien, dem Verbannungsort seines Vaters, kommt Igor Sacharow-Ross sehr früh mit der Welt der Schamanen in Berührung, die in diesem ländlichen Gebiet nichts Exotisches an sich hat, sondern vielmehr Teil der dortigen Alltagswirklichkeit ist. Der russische Philosoph und Kunstkritiker Boris Groys nennt als wesentliches Moment im Leben des Künstlers, das auch als eine Art sozialer rite de passage verstanden werden kann, die Ausbürgerung aus der UdSSR im Jahre 1978 und im darauf- folgenden Jahr die Emigration nach Westdeutschland, wo er politisches Asyl erhielt: „Denn die Emigration reißt im inneren Erleben des Künstlers einen Zwiespalt auf, der mit einem Bruch identisch ist, welcher die gegenwärtige Kultur in konkurrierende Ideologien, polit- ökonomische Systeme und kulturelle Traditionen teilt. Deshalb ist es so schwer, diesen Bruch zu überwinden und im persönlichen Leben das zu integrieren, was im sozialen Leben auf allen Ebenen zerrissen ist. Gelingt aber eine solche Integration, dann übertrifft ihre Bedeutung den Rahmen der individuellen Biographie.“

Mitte der 1980er Jahre findet das Yagya – eine Art Opferritual vor einem heiligen Feuer – Einzug in Sacharow-Ross’ künstlerische Praxis. Unter anderem im Rahmenprogramm der documenta 8 führt der Künstler ein mehrtägiges Yagya aus. Durch diese beschwörungsähnlichen Handlungen sollen laut seinem Biografen Peter Stepan „überpersönliche Energien“ mobilisiert und „Kräftefelder“ aktiviert werden. Der Künstler nimmt hiermit in vielerlei Hin- sicht die Rolle des Schamanen ein und fungiert als Medium, als Mittler zwischen verschiedenen Welten. Dabei wird die Kunst zum Heilmittel.

Gérard A. Goodrow aus: Joseph Beuys und die Schamanen, hg. v. Stiftung Museum Schloss Moyland/Sammlung van der Grinten/Joseph Beuys Archiv des Landes Nordrhein-Westfalen (Ausstellung.-Kat. Bedburg-Hau, Museum Schloss Moyland, 02.05. – 29.08. 2021, Bedburg-Hau 2021, S.257-263


Exhibitions / Ausstellungen:

Museum Schloss Moyland, Bedburg-Hau 

Publications / Publikationen:

Joseph Beuys und die Schamanen, hg. v. Stiftung Museum Schloss Moyland/Sammlung van der Grinten/Joseph Beuys Archiv des Landes Nordrhein-Westfalen (Ausstellung.-Kat. Bedburg-Hau, Museum Schloss Moyland, 02.05. – 29.08. 2021, Bedburg-Hau 2021


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