2020 Ursprung des Lebens

Teilnahme am 24. Bad Honnefer Winterseminars: „Ursprung des Lebens“
vom 16. – 18. Januar 2020 im Physikzentrum Bad Honnef zu Problemen der Kosmischen Evolution sowie neue künstlerische und literarische Arbeiten zum Thema.

Ursprungsdesign: Die Kunstmetaphysik von Igor Sacharow-Ross
Von: Christian A. Bauer


„Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm!
Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen?
Was er erkennt, läßt sich ergreifen.
Er wandle so den Erdentag entlang:
Wenn Geister spuken, geht er seinen Gang.”
(Johann Wolfgang von Goethe: Faust II)


1.Arbeit an Mythos und Logos
Der Autor dieses Beitrags und Igor Sacharow-Ross haben des Öfteren über den Umstand gesprochen, dass in jüdischer Religionsphilosophie und Geistesleben die Gegenwart eine ganz besondere Würdigung erfährt. Es ist die historische Erfahrung der „Zeitbrüche“ (Eveline Goodman-Thau), die zu einem besonderen Bewusstsein von Geschichtlichkeit geführt hat. Sicherlich sind kulturelle Gegebenheiten von einer anderen Qualität und Ordnung als die faktenbasierte Wissenschaft: Erstere sind getränkt von kontrafaktischen Annahmen, letztere beschränkt sich zumeist auf die Empirie. Doch wenn von den Ursprüngen des Lebens die Rede ist, findet eine Verwischung statt. Es tun sich neue Spekulations- und Imaginationsräume auf, die auf Übersetzungsleistungen angewiesen sind: auf das Ausbuchstabieren des kultürlichen Alphabets in die Sprache der Naturwissenschaften et vice versa.
Ein großer Übersetzer ist Igor Sacharow-Ross. Er hortet seit Jahrzehnten einen Blumenberg bestehend aus Beifuß, Huflattich (aus Urfeld!), Bananenblättern, Farnen, aber auch Abstrichen von Krebszellen: Alles Leben, alles im Vergehen befindliche zu begreifen und nicht davor zu bewahren, irgendwann unterzugehen. Aber auf Grund seiner langjährigen transdisziplinären Auseinandersetzungen mit Physikern, Neurologen, Onkologen, Biologen etc. ist in seinem Ostheimer Laboratorium etwas Ungeheuerliches gewachsen: Eine stille Schule des Bewusstseins für die heimlichen Ursprünge des Lebens. Seine Transfer- und Tafelbilder oder gar Raumcollage gewordenen Arbeiten transformieren und potenzieren Messergebnisse in noch nicht näher beleuchtete Bereiche der Erkenntnis, des universalpoetischen „Eräugnis“ (Jean Paul) und der Einsicht durch Einfühlung in Tiefenschichten unseres vorbewussten Lebens.
Ein Ernst Cassirer hätte als Wissenschaftstheoretiker und Philosoph seine Freude gehabt an dem sich immer neuen Erkenntnissen öffnenden symbolischen Kosmos, in dem Kunst, Wissenschaft, Religion, Mythos, Technik und Poesie miteinander kommunizieren. Denn tatsächlich ist es Poesie, die in der Ursprungsnähe entsteht; so will es der romantische Kunstmythos. Die Kunst als Potenzierung des Lebens zu begreifen, wie Novalis, und sie als Wissenschaftler zu Begriffen zu steigern, kann scheitern; dann benötigt man Anschauungen und Theorien des Unbegreiflichen. Dann öffnet man sich für die Verschränkungen zwischen Kunst wie Wissenschaft und den jeweiligen Umständen der Bilderproduktion eingedenk des beträchtlichen Unterschieds: Die Bildgebungsverfahren der Kunst sind ca. 500-600 Jahre älter als die des Radiologen, des MRTlers oder CERN-Physikerteams; aber bei all ihnen kreisen Bilder um Begriffe und Modelle.
Igor Sacharow-Ross hat etwas Ursprüngliches aus kulturell lesbaren und vorderhand nur dem Spezialisten zugänglichen symbolischen Systemen aufgebaut. Er verweist uns damit auf frühere Abenteurer der Vernunft wie etwas J.W. v. Goethe, die in ihrem Haus den Weltenbau rekonstruieren wollten. Universaldilettanten, wie sie sich selber nennen, leben für die Bildung des Menschen, der sich in seinen Ur-Zeichen selbst entdecken kann. Diese Bildung versteht sich aus einer gelebten Nähe zu den großen Erzählungen der Menschheit, die immer auch Narrative über die Ursprünge des Lebens sind. Die Großmythen der Ägypter, Hebräer, Griechen und später der Römer sind in den Grundcode europäischer Kulturen eingeschrieben.
Darunter befinden sich Natalitätsnarrative, die den Ursprungsmythos mit dem kosmischen Ei in Verbindung bringen. Das aus Sein und Nichtsein gemischte Ei, das sich aus dem Chaos herausschält, und zur Schöpfung von Gaia, der Erde, führt, ist eine derartige Geburtlichkeitsvorstellung, die auch in vielen außereuropäischen Kulturen anzutreffen ist. Die Evidenz des Einen, das aus seiner symbolischen Einheit herausfällt, benötigt eine mythologische Gestalt oder eine, mit Kunst (ars, techné) geprägte Form, damit an ihr der Ur-Akt der Entzweiung exemplifiziert werden kann. Aus Eins muss Zwei werden, dann hat man schon die Drei und es beginnt die Zauberei, erst in mythologischer Gestalt.
Mit der Arbeit am Logos beginnt dann auch der philosophische Gehalt zu schwellen. Aber auch der käme nicht zustande ohne jene Präfiguration einer Ur-Teilung (z.B. in Schellings Naturphilosophie), durch die eine Entwicklung ins Unabsehbare ihren Ur-Sprung hinter sich lässt.
Das eine Urteilung und Entzweiung auch den Anfang des menschlichen Lebens markiert, ist jener Interpretation der Genesis eingeschrieben, die die Morphologie des moralischen Bewusstseins betrifft. Alles beginnt mit der Einblasung des Lebensodems in den Tonklumpen, der dadurch zum ersten Menschen wird. Mit dem Naschen am Baum der Erkenntnis und der daraufhin erteilten Vertreibung aus dem Paradies verliert der Mensch seine Ursprungsnaivität. Dass zur Welt kommen der Gattung in der Genesis ist zugleich verbunden mit dem Eintritt in die Sphäre harter körperlicher Fron. Aus christlicher Perspektive ist Arbeit unmittelbare Folge und Ausfluss des Sündengeschehens. Die Ur- und Erbsünde (peccatum originale) der Nichtbefolgung des göttlichen Gebots, also seine moralische Unreife, wird zum Gründungsakt des Dramas menschlicher Existenz. Von da an entfaltet sich Existenz innerhalb einer heilsgeschichtlichen Ordnung. Bis dann das moderne Subjekt dem Drama des Daseins eine Wendung verleiht, indem er zum „Mensch in der Revolte“ wird. Doch diese Geschichte geht nicht gut aus, und weil Viele es wissen, thematisieren sie Ursprünge.


2.Zur Grundlagenkrise
Wir erleben nicht erst seit gestern eine Krise des Denkens, die uns dazu nötigt, das Thema der Ursprünge zu bedenken. Im ausgehenden 19. Jahrhundert reift das Bewusstsein einer tiefgreifenden Kulturkrise. Nietzsche ist der erste, der es mit der Parole der décadence auf den Punkt bringt. Seine Diagnose lautet: Ursprungsverlust als Verlust von Gesundheit und Kraft; die Folgen sind bekannt: Zivilisationskrankheiten aller Art, die von den konservativ-revolutionären Kräften als Rechtfertigung für die beabsichtigte „Re-Barbarisierung“ (Thomas Mann) der Kultur gelesen wurde.
In der Philosophie setzt sich das Problem durch den späten Edmund Husserl (in dessen „Krisis“-Schrift formuliert) und seinen eigensinnigen Adepten Martin Heidegger fort: „Zurück zu den Dingen“ fordert der eine, die Rückeroberung des Seins proklamiert der andere. Doch auch jenseits des akademischen Geistes braut sich die Krise als eine Ursprungs- und Elementarkrise zusammen. Die Entdeckung der Quantenmechanik und die unabsehbare Fülle von Erfindungen, die eine durch den Zweiten Weltkrieg angeheizte Forschung auf den Plan eines zusehends nekrophilere Züge tragenden Lebens gerufen haben, bringen die Gefüge der Wissenschaften endgültig zum Tanzen.
Während in den 1950er-Jahre der systematische Wiederaufbau auf physischen Grundlagen gelingt, scheitern die Wissenschaften in ihrem Bemühen, auf eine einheitliche Theorie zuzusteuern. Die Gefüge des Wissens sind zerrissen; was bleibt, sind unterschiedlich tief gestaffelte Ordnungen von „Elementarteilchen“ (in einem erweiterten Sinn), Informationspartikeln. Bits and Bites. An den Dingen, die Menschen als Ingenieure der Technik wie des Sozialen hergestellt haben, merken sie, dass sich eine fundamentale Ent-Kopplung zugetragen hat, ein ungeheuerliches Ereignis des Denkens, von dem heute erst das Eine oder Andere in der Breite der Bevölkerung ankommt. Die politische Denkerin Hannah Arendt nennt das damals, Ende der 1950er-Jahre, eine „Grundlagenkrise“:
„Wenn es wahr sein sollte – und nicht einfach ein Fall eines Selbstmißverständnisses eines Naturwissenschaftlers –, daß wir von Maschinen umgeben sind, deren Tätigkeiten wir nicht begreifen können, obwohl wir sie entworfen und gebaut haben, so würde es heißen, daß die der höchsten Ebene der Naturwissenschaften zugehörenden Schwierigkeiten in unsere Alltagswelt eingedrungen sind“.
Nicht nur hat die Kybernetik der 1950er-Jahre zahllose Beispiele geboten, aus denen ersichtlich wurde, dass sich eine durch Technik geprägte Gesellschaft zum black box-Phänomen verkapselt hat. Mehr und mehr wurden aus sozial- und politikwissenschaftlicher Perspektive die Einbußen ersichtlich, die mit einer technologisch hoch aufgerüsteten Gesellschaft einhergingen: eine ungeheure Diskrepanz in der Verarbeitungsgeschwindigkeit von Einsichten in den jeweiligen wissenschaftlichen Teilsystemen und die Unfähigkeit der sog. Geisteswissenschaften (od. soft sciences), mit den Neulanderschließungen der Naturwissenschaften (od. hard sciences) Schritt zu halten. Trotz vieler Vermittlungsversuche (z.B. auf dem Feld der second-order-Kybernetik, der Systemtheorie) haben die „zwei Kulturen“ (Charles Percy Snow) nie wieder zueinander gefunden. Man hatte also durchaus Illusionen nötig, die Diskrepanz zu überbrücken, die neuen Unvermögen zur Synthesis kompensierbar erscheinen zu lassen – et voilà: Die Karriere der ungegenständlichen Kunst in der Nachkriegsmoderne! Wenn der Mensch Erfolge zu zeitigen vermag, die er nicht länger begrifflich durchdrungen oder nur noch in Sprachen des Außeralltäglichen fassen kann, so ist er in den Bezirken der modernen Kunst angelangt.


3.Vermittlungsversuche zwischen Anfängen und Enden
„Maschine, Materie waren folglich des Pudels Kern, immerhin ein sehr männlicher und erwachsener; die Kinder kommen aus dem Mutterleib, das Leben kommt aus dem Kohlenstoff, der Kohlenstoff kommt aus den Atomen.“
Dass „der Mensch tun kann (und mit Erfolg kann), was er nicht begreifen und nicht in der täglichen menschlichen Sprache ausdrücken kann“ – wie es Arendt ausdrückte, oder dass der Mensch sich überhaupt nicht mehr auf der Höhe seiner eigenen Machenschaften wird halten können – wie es der Technikphilosoph Günther Anders kongenial in „Die Antiquiertheit des Menschen“ formulierte, hat nur bedingt zum Umdenken geführt. Auf der intellektuellen Ebene hat sich nicht sonderlich viel Erhebliches, was den Ehrentitel der metanoia tragen dürfte, zugetragen. Die traurigen Reste abendländischer Metaphysik hat man auf den Lichtungen des Schwarzwalds versammelt und das Sein poetisiert, das „man“ (horribile dictu!) sich wieder zu erschließen habe. Doch hat nicht der Meister der Kehre unter dem Vorzeichen der Fundamentalontologie auch Kunst-Figuren bemüht, die schon in seinen Jugendjahren auf den Weltbühnen geprobt wurden? Ob in Ludwig Klages Berufung auf den „kosmogonischen Eros“, ob in Walter Benjamins Abschluss-Gesang in der „Einbahnstraße“ oder in Carl Einsteins kunsttheoretischen Erschließungen zum sog. „Primitivismus“ – überall wucherten bereits die Ursprungssehnsüchte. Denn was leistet der Ursprung, was kann der Künstler, wenn er ur-zu-springen vermag? Er schenkt das Leben, das heilige, das bitter-süße, das in kosmischen Kämpfen zwischen Ich und Welt oder Gott und Ich schwelgende Fluidum des Lebens. Um 1900 wollten sie Lebens-Geber sein, diese Blüte der Jugend, die sich dann 1914 ff. in Blut taufen ließ, träumte den kurzen Traum des unsterblichen Lebens, das an seinen gesunden (!) Quellen entdeckt und angezapft werden wollte. „Wer nur stark genug will, wird es erreichen!“, lautet die Verheißung dieser Zeit.
Was hat dies aber mit den Werken eines Gewährsmannes wie Igor Sacharow-Ross zu tun, der dieser Generation keineswegs entstammt, der aber die Philosophen und die Künstler seit Jugendbeinen studiert hat, die sich mit dem Leben-Spenden und Leben-Schenken befasst haben? Was hat er für eine besondere Expertise, dessen Ur-Sprung weit im Osten, in der Stadt Chabarowsk liegt?
Die Kindheit war von brutalen Verhältnissen geprägt, mehrere
deutsche und japanische Kriegsgefangenenlager und zusätzlich die stalinistischen Strafkolonien! Doch durch mütterliche Liebe und Weisheit erging das Geheiß, dem Mahlstrom der Vernichtung in Richtung Tundra zu entfliehen. Was hat ein Mensch für einen besonderen Beruf, wenn er als Jugendlicher zwischen den Flüssen, der Feuchtigkeit zwischen den uralten Farnen Sibiriens die schamanistischen Praktiken der Beschwörung erfährt? Dass die Quelle des Lebens im Rhythmus liegt, das hat er von jeher gewusst.
Und nun zu seinen Bildgebungen, die eher Bild-Rhythmen sind, die „Algo-Rhythmen“ sind (von griech.: algos, der Schmerz). Ein Mensch mit metaphysischer Ader ist nicht schwer zu erkennen: Er ist des tief empfundenen Mitleids fähig. Er hat dieses Weltorgan und er nutzt es zum Wohl anderer, wie die Schamanin, die mit Schlägen den Baum in Schwingungen versetzt, die sich zu kosmischen Wellen ausbreiten. Während der Astrophysiker seine Instrumente in den Weltraum richtet, um aus der Hintergrundstrahlung ein Nachbeben des Urknalls zu vernehmen, wendet sich der Mystiker nach Innen und sucht an einem Nicht-Ort unerkannte Intensität. Zwischen diesen Positionen vermittelnd stehen die losen und immerfort un-fertigen Arbeiten von Igor. Das infinito ist eine überaus glaubwürdige Botschaft (wie die des späten Leonardo!). Durch sie gelingt es, das credo quia absurdum zu vermeiden, das ansonsten zur Subjektausstattung des modernen Kunstbetrachters gehört. Es gibt nichts Schlüsselfertiges zu glauben bei ihm. Bei allem Materialexperimenten mit dem Werkstoff Carbon, bei allem Spekulieren mit den Elementen und Naturkräften in Form von Yagyas, bei allen Ausflügen in die kabbalistische Elementarlehre, bei allen Referenzen auf heilsgeschichtliches Personal bleibt doch das Nicht-zu-Ende-Gebrachte stehen als das mahnende Zeichen: Dass der Mensch eine Verantwortung trägt für seine Taten, die sich durchpausen und transferiert werden durch die Zeiten als Geschichte nationaler Konflikte, die zum Quell kollektiver Heilserwartungen werden, – Kämpfe in vom aggressiven Krebs infizierten menschlichen Zellen. Auf diese Strukturen des Lebens fällt nicht das milde Licht der Humanität, sondern die langen Schatten der Weltgeschichte.
Dies alles in einen Gesamtkontext zu bringen, hat er nie wirklich gewagt, obschon all die Blätter in seinem Atelier, all die großen Tafelbilder davon erzählen, wie wir einst anfingen zu horchen und zu gehorchen, wie ein anfänglicher Sinn darin lag, der dann pervertiert und gegen die Menschen gerichtet wurde. Und all dies in einem dann doch holistischen Ansatz, der durch die Blätter durchschimmert wie das Mondlicht, das dem paranoiden „Irrläufer der Evolution“ (Arthur Koestler), der Gattung Mensch demonstriert, dass sie einer umfassenden Einsicht in die Lebenszusammenhänge bedarf, damit sie nicht schließlich scheitert.


Publications:

Kurt Roessler (Hg.), Ursprung des Lebens – Stand nach 100 Jahren Forschung, Bornheim 2020

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