2023 Vor und nach dem Urknall

Teilnahme am 26. Bad Honnefer Seminar: “Vor und nach dem Urknall”
vom 22. – 25. Juni 2023 im Physikzentrum Bad Honnef zu Problemen der Kosmischen Evolution sowie neue literarische und künstlerische Arbeiten zum Thema.

Stadien des Bildes Urknall
Von: Igor Sacharow-Ross

Für den literarisch-künstlerischen Teil des Skriptums zum aktuellen Winterseminar „Vor und nach dem Urknall“ bat der Hrsg. wie in den Vorjahren den für die Syntopie von Naturwissenschaft und Kunst bekannten russisch-deutschen Künstler Prof. Igor Sacharow-Ross um einen Beitrag. Dieser zeigte ihm in seinem Atelier eine große Holztafel mit einer überwältigenden Darstellung des Urknalls.

Das nie veröffentlichte Bild hat eine Entstehungsgeschichte, die relativ gut belegt ist. Der Künstler hat es 1993 begonnen und danach immer wieder verändert getreu seiner Maximen „Das Ergebnis ist tot, es lebe der Prozess“ und „Die Arbeit muss nicht vollendet werden. Aber es ist uns nicht erlaubt, die Arbeit zu verlassen. (Talmud, Sprüche der Väter, Rabi Tarfon, Abot, 2, 21)“. Auch für das Seminar im Juni 2023 will er es noch einmal überarbeiten.

Alles begann mit der Installation Tabula Rotunda im Jahre 1992 in der Städti- schen Galerie im Folkwang Museum Essen. Schon 1990 schuf Sacharow-Ross eine Studie dazu, vor deren unterem Teil er sich 1992 photographieren ließ. Der Künstler reckt seine erhobenen Fäuste vor einer roten und gezackten dynami- schen Linie, die sich vor den Darstellungen eines Weltenglobus und anderer runder Objekte waagrecht von links nach rechts streckt (Abb. 2).

Abb.2: Photo von Igor Sacharow-Ross 1992 vor Studie zur Installation Tabula Rotunda, Mischtechnik auf Leinwand, Gesamtgröße 133 x 180 cm, 1990

Bei der Installation im Folkwang Museum (Abb. 3) befand sich aber nicht die- se Studie im Mittelpunkt eines hohen und langen Baustellengerüsts, sondern das etwas größere Gemälde HAUPT SCALA. Es war Teil einer Kollage, die das Auf und Ab der Geschichte und der Heilsgeschichte zum Thema hatte, stän- diges Scheitern und Weitermachen trotz aller Feindseligkeit und Vergeblich- keit, eine Form stoischen Optimismus, der zwar nichts wirklich verbessert, aber hilft zu überleben. Auch die rote zackige Linie der Studie (Abb. 2) spricht von diesem wiederholten Ablassen von der Arbeit an der Welt und ihrer Wie- deraufnahme als fundamentale Dynamik.

Die Installation vereinigte in einer Kritik des menschlichen Strebens nach Vollkommenheit in einer umfassenden Syntopie – einem Alles hier und jetzt – die materiellen und geistigen Komponenten der Welt. Das Gerüst betonte, dass dieses eine große Baustelle ist und bleiben wird. Das russische Wort Rabota

Abb. 3: Tabula Rotonda, Installation, Baugerüst mit Objekten, Länge ca. 17 m, 1992 Städtische Galerie im Folkwang Museum Essen, Nov. 1992 bis Jan. 1993

bedeutet für Sacharow Ross „Arbeit an der Welt“ oder „Die Welt als Arbeits- platz“. Dieses wird in vielen der Objekte durch die aufeinander geschichteten Bausteine betont. Das Problem dieser Art von Syntopie ist, dass die Kompo- nenten optisch etwas beziehungslos nebeneinander hängen, wie auf der Wä- scheleine. Alles wirkt eher additiv, es fehlt die lebendige Vernetzung. Auch ist es schwer, die Installation im Ganzen zu überschauen. Aus dieser Erkennt- nis wuchs dann in der Folge der Ansatz, die wichtigsten Komponenten der Installation in einem einzigen Tableau zu konzentrieren.

Das zentrale Bild HAUPT SCALA (Abb. 4) ist bereits ein Vorgeschmack davon. Es zeigt rechts unten als Zeichen des Baue ns an der Welt ein Mauerstück aus zwölf länglichen Steinen. In waagrechte Anordnung weist eine Hand von rechts aus einer Wolke auf vier runde Objekte. Das erinnert an die rechte Hand Gottes von Michelangelos Fresko Erschaffung Adams an der Decke der Sixtinischen Kapelle. Dort behandeln die neun sogenannten Genesisfresken die Erschaffung der Welt nach Genesis 1–9. Allerdings ist es im obigen Bild eine linke menschliche Hand und sie trägt am Ringfinger einen dicken Ring wie einen Ehering. Die Fäuste und die Hand in Abb. 1 und 4 dürften eher den Künstler selbst als Hinweisgeber, Propheten oder – im Falle von Igor Sacha- row-Ross – als Schamanen konnotieren. Letzteres konnotiert auch dessen Haartracht in der Abb. 2. Zwei der vier runden Objekte zeigen eine Aufsicht auf eine grüne Wiese als Symbol der Erde, das zweite von links eine Darstel- lung der bekannten Ikone der Kreuzigung Christi aus der Schule von Nowgo-

Abb. 4: HAUPT SCALA, Mischtechnik auf Holz, 173 x 254 cm, 1992

rod (16. Jh.) und das rechte einen Text aus einer koptischen Bibel. Etwas rechts von der Mitte befindet sich eine senkrechte Struktur vom unteren bis zum oberen Bildrand, die an die Doppelhelix der DNA erinnert. Dieses Bild wirkt wie ein zentraler Hinweis auf das Ziel der Installation, um den sich die vielen Einzelinformationen sammeln.

Das Miteinander von natur- und geisteswissenschaftlichen sowie religiösen Momenten (Transzendenz), das in der Installation noch auf verschiedene, se- parat angebrachte Einheiten verteilt ist, fasste der Künstler in einem Bild ohne Titel zusammen, das er im Jahre 1993 auf einer Holztafel von genau der gleichen Größe wie die von HAUPT SKALA begann. Im Zentrum stand auf einem gerasterten Hintergrund mit Strukturen, die an ein Fischernetz erinnern, wiederum eine waagrechte Anordnung: in der Mitte eine längliche weiße Wolke, aus der Licht hervorbrach – mit ca. 40 % der Bildfläche damals noch voluminöser als in der aktuellen Fassung (Abb. 1). Sie wurde von zwei Armen mit Fäusten links und rechts flankiert, die sie auseinander zogen. Veränderungen nach 1993 reduzierten den Umfang der Wolke, in schleierartige Strukturen. Dafür wurde der Hintergrund mit einer Vielzahl fein gezeichneter Komponenten gestaltet. Darunter die von den vorherigen Werken bekannten Anordnungen von Ringstrukturen (Biomoleküle oder Waben), Grundrisse bekannter Bauwerke (u .a. S. Stefano rotondo), Architekturdetails (u. a. S. Paolo fuori le mura und der ARAG-Tower, Düsseldorf), Schemazeichnungen physikalischer Messanordnungen, Gesichter und Figuren. Von diesem Garten lebendiger Einzelformen sagte ein Freund des Künstlers, den er nach seiner Flucht aus Russland 1979 in München kennen lernte, der Amtsdirektor des bayerischen Innenministeriums bis 2004, Georg Waltner (1939–2020): „Das ist ein Bild, um darin spazieren zu gehen.“

In den Jahren 1997/98 fand ein Besuch statt, der dem zunächst, wie so oft bei Sacharow-Ross, titellosen Bild seinen Namen gab. Der russische theoretische Kernphysiker Prof. Dr. Alexej Vorobjev (1931–2021) kam bei einer Rückreise von der Beschleunigeranlage CERN bei Genf mit seinem Kollegen Dr. Valerj A. Schegelskj kurzfristig bei Igor Sacharow-Ross in Köln-Ostheim vorbei. Des- sen Frau Alla war bis zu ihrer Heirat 1977 als Physikerin und Patentanwältin in Vorobjevs damaligen Leningrader und heute St. Petersburger Institut für Kernphysik in Gatchina (PNPI) tätig gewesen. Seit dieser Zeit bestanden trotz der Flucht aus Russland enge freundschaftliche Beziehungen zur Familie Sa- charow-Ross. Der Künstler unterstreicht, dass das Bild damals nur durch einen puren Zufall im Atelier stand. Die Russen waren sehr beeindruckt und nannten es das expressivste Kunstwerk zum Urknall .

Vorobyev war als Gründer des 1 GeV-Zy- klotrons in Gatchina, dem seinerzeit größten Beschleuniger der Sowjetunion, ein hoch dekorierter Physiker und Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Mit seinen Arbeiten zur Kleinteilchenphysik auf dem Feld der elastischen Hadronen- streuung stand er seit Jahrzehnten in Zu- sammenarbeit mit den größten internatio- nalen Beschleunigeranlagen. In CERN arbeitete er insbesondere bei den giganti- schen Detektorenanlagen der Projekte CMS, LHCb und ALICE und leitete die aus dem PNPI entsandten russischen Mitarbeiter. Wenn ein solcher Mann, der sein Leben dem gewidmet hat, was der Hrsg. die „Simulation der ersten Prozesse des Urknalls im Labor“ nennen möchte, als Taufpate agiert, dann bedeutet das etwas für das Bild. Die russischen Kernphysiker baten den Künstler inständig, nichts an dem Bild mehr zu verändern. Igor Sacharow-Ross gab zu, dass er danach aber doch noch weiter gearbeitet habe, weil es ihm keine Ruhe gelassen habe. Der Hrsg. schloss sich im Januar 2023 den Bitten der russischen Kollegen an. Igor Sacharow-Ross bekräftigte aber, dass das Bild noch nicht fertig sei und er nicht aufhören werde, das Netz mit dem, was heute ist, weiter zu füllen.

In der aktuellen Fassung (Titelbild) ragen aus der Wolke an ihren Enden zwei Arme mit geballten Fäusten heraus, die sie – ohne sie direkt zu berühren und eher wie zwei Kraftpole auseinanderziehen. Dieser primäre Prozess steht vor dem kleinteiligen Hintergrund mit den materiellen und geistigen Folgen im ausdifferenzierten Kosmos. Vordergrund und Hintergrund stehen in einer zeitlichen Abfolge. Das Erregende des Bildes hängt ganz an den beiden, die Wolke auseinander ziehenden Fäusten. Es sind nicht wie in den oben besprochenen Bildern die hinweisenden menschlichen Fäuste oder die Hand des Künstlers, sondern grauweiße Skulpturen, wie aus Marmor gehauen. Neben dem fehlenden Inkarnat schließt auch ihr viel zu großer Abstand voneinander aus, sie einem von der Wolke verdeckten menschlichen Wesen zuzuordnen. Auch schließen die beiden agierenden Fäuste aus, dass der Urknall etwas mit einer Explosion im Inneren der Wolke zu tun hätte. Für das Ziehen ohne Berührung der Wolke – wie durch zwei Kraftpole – bieten sich nun zwei völlig unterschiedliche Interpretationen an:

Die Kraftpole kommen aus der Wolke selbst und das marmorne Hellgrau der Fäuste spielt auf das Weiß der Wolke an. In einer Art Autopoesis zieht diese sich mit eigener Kraft selber auseinander und bewirkt so die Formenbildung des Hintergrundes. Die der Wolke – das ist in der Physik innen liegende Kraft ist das Agens und die Dynamik braucht keine transzendente Triebkraft. Die Fäuste sind hierbei ansprechende Symbole für den rein physikalischen Vorgang.

Oder: Die Fäuste sind Symbole eines übergeordneten metaphysischen Prinzips oder sogar einer transzendenten persönlichen Kraft. Letzteres wäre bei Igor Sacharow-Ross eher zu vermuten und wird auch von ihm selbst für sein Bild grundsätzlich angenommen. Die bei aller Monumentalität durchaus reale und persönliche Gestaltung der Fäuste und die Beibehaltung dieses Symbols aus den früheren Bildern sprechen eher für ein personales Prinzip. Dieses Bild schließt sich in seinem Habitus zwar an die verkündenden Werke der Spätrenaissance an, etwa die Fresken in der Sixtinischen Kapelle, zeigt aber Gott nicht als agierende Person selbst, sondern nur die von ihm im System angelegte Wirkung. Mit der Andeutung einer möglichen Verbindung von Physik und Transzendenz trägt das Bild nun zu einer der wesentlichen Fragestellungen des Seminars bei. Es formuliert eine Kraft, die aus der Wolke heraus agiert – aus der Physik – und dennoch transzendenten Ursprungs ist. Die Fäuste sind kein aus dem Formenkatalog der Kunst ausgesuchtes, eher beliebiges Symbol mehr, sondern gezielter Hinweis auf den hinter der Physik stehenden, verdeckten transzendenten Ansatz. Das kann der Künstler in seiner Syntopie andeuten, die Naturwissenschaft sollte aber lieber beim Urknall die Physik aus der Physik erklären. Aber es mag sein, dass bei einer Übersicht über alle Prozesse einer funktionierenden GUT das, was Thierry von Chartres den „göttlichen Keim“ nennt, die Grundinformation, ein wenig anschaulicher wird, so wie hier im Bild.

Literaturverweise

In den Skripten der Winterseminaren von 2020 und 2022

Sacharow-Ross I 2020 Bilder zum Leben, in Ursprung des Lebens (24. BHWS 2020), Roessler K Hrsg, Bornheim, 159–165 (verbunden mit einer Ausstellung im Physik– zentrum Bad Honnef vom 16–19/01/2020).

Bauer CA 2020 Ursprungsdesign: Die Kunstmetaphysik von Igor Sacharow-Ross, ebd, 166–172. Roessler K 2022 Syntopia von Igor Sacharow-Ross / Zur naturwissenschaftlichen Inter– pretation von Kunstwerken, in Schwarze Löcher und kosmische Evolution (25.

BHWS 2022), Roessler K Hrsg, Bornheim, 214–223.

Biographisches und zur Installation Tabula Rotunda 1992
Stephan P 1993 Biographie und Werkentwicklung [bis 1992], in Igor Sacharow-Ross,

Weiss E Hrsg, München, Prestel, 46, Tafeln 142–143.
Raab J 1997 Orte des Geistes / Die Raum-Klang-Installationen, in Reanimation / Igor

Sacharow Ross (zur gleichnamigen Ausstellung im Musée des Beaux-Arts, Tour– coing, Frankreich, 18/10/1997–19/01/1998), Allemand ED Hrsg, Ostildern-Ruit, Cantz Verlag, 47–56, Tabula Rotunda, 50–51.


Publications:

Kurt Roessler (Hg.), Vor und nach dem Urknall, Georges Lemaître dem Vater der Urknallhypothese gewidmet, Bornheim 2023

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