2000, Sapiens / Sapiens

Sapiens / Sapiens


Syntopie project


The project started in the form of a spatial collage in the Palais des Nations of Geneva on the occasion of the UN Commission on Human Rights in March 2000. Afterwards, the artist prepared in the Ural forests 120-150 year-old pinewood stems to create in September a blockhouse in the traditional architecture, as an annex of the Simultanhalle in Cologne. In doing so, he initiated an open, continuous process, which he calls syntopia*-sculpture. It deals with original connections between people and cultures. What is essential is the definition and formation of a place where different places meet.

* The brain researcher Prof. Dr. Ernst Pöppel defines syntopia as follows: The connection of the spatially and conceptually separated is the prerequisite for creativity, which grows from the combination of explicit knowledge, implicit ability and personal knowledge.

Das Projekt startete in Form einer Raumcollage im Genfer Palais des Nations, anlässlich der UN-Menschenrechts-Kommissions-Tagung im März 2000. Anschließend bereitete der Künstler in den Uralwäldern 120 bis 150 Jahre alte Kiefernholzstämme vor, um aus ihnen im September ein Blockhaus in traditioneller Architektur, als Annex der Simultanhalle in Köln, zu errichten. Damit setzte er einen offenen, kontinuierlichen Prozess in Gang, den er als Syntopie*-Plastik bezeichnet. Diese setzt sich mit ursprünglichen Verbindungen zwischen Menschen und Kulturen auseinander. Wesentlich ist die Definition und Bildung eines Ortes, an dem verschiedene Orte zusammenkommen.

* Der Hirnforscher Prof. Dr. Ernst Pöppel definiert Syntopie wie folgt: Die Verbindung des räumlich und gedanklich Getrennten ist Voraussetzung für Kreativität, die aus der Verbindung von explizitem Wissen, implizitem Können und persönlichem Wissen erwächst. 


Mathildes Geschenk
Als ich Igor im Sommer 2000 kennenlernte, hatte ich gerade die Meisterschule bestanden, war Vater geworden und gerade nach Köln zurückgekehrt. Arbeit hatte ich noch nicht, als mich ein ehemaliger Kollege zum Sommerfest der Kölner Zimmererinnung einlud. Eine gute Gelegenheit, einige Zimmererkollegen zu treffen und der Eine oder Andere würde jetzt im Sommer sicher einen Mitarbeiter gebrauchen können.Igor war –  mit seinem Anliegen, Hilfe für den Aufbau eines russischen/udmurtischen/tatarischen Blockhauses zu finden – ebenfalls vor Ort. Dieses sollte im Rahmen seines Syntopieprojektes an die Simultanhalle der Stadt Köln angebaut werden. Das war alles was ich mitbekam, denn Igor hatte bereits gesprochen. Ein Blockhaus, das war nach meinem Geschmack, denn auf meinen Wanderjahren als Geselle, dachte ich einen Riecher bekommen zu haben für ein gutes Abenteuer. Einige Kölner Zimmereibetriebe hatten ebenfalls bereits zugesagt Igor zu unterstützen, was die Sache – hinsichtlich meiner Ambitionen in Köln Arbeit zu finden – rund zu machen schien.
Wenn ich mich recht entsinne hatten die Arbeiten bereits begonnen, als wir Kölner Zimmerleute montags auf dem Bauplatz eintrudelten. Die Kölner Zimmereien hatten ihre Gesellen, Maschienen und Fahrzeuge zur Verfügung gestellt. Manche kamen für wenige Tage, Andere für eine ganze Woche.
Aufgrund meiner Situation, noch keinen festen Job zu haben, war ich der Einzige, der durchgängig dort sein konnte. So fiel mir die Aufgabe zu, die Arbeiten von Kölner Seite fachgerecht zu koordinieren.
Der eigentliche fachliche Leiter der Aktion war allerdings jemand Anderes. Mein verehrter tatarischer Kollege Nurgaian Migasov, der das Haus im Ural vorbereitet hatte.
Man muss von erbaut sprechen, denn ein Blockbau wird auf dem Zimmerplatz teilweise aufgebaut, dabei jedes Holz entsprechend angepasst, danach wird das Haus wieder zerlegt und (gegebenenfalls) woanders hin transportiert, um es dort endgültig aufzubauen.
Da es keine Pläne gab, war Nurgaian der Einzige, der wusste wie die Teile zusammengesetzt werden mussten. Eine unbekannte Situation für uns, zumal der Blockbau hier in der Gegend traditionell nicht verwurzelt ist, so dass keiner wirkliche Erfahrung in der Bauweise hatte.
Verständigen konnten wir uns nicht direkt, da ich weder Russisch noch Tatarisch spreche und auch Nurgaian in seinem Leben bisher noch nicht mit der Notwendigkeit konfrontiert gewesen war, Deutsch zu lernen. Als junger Mann war er am Aufbau des Kosmodroms Baikonur – durch den Bau der ersten Unterkünfte – beteiligt.
Es gab mehrere fleißige russische Studenten, die nicht nur halfen das Haus aufzubauen, sondern genauso fleißig zwischen Russen und Deutschen hin und her übersetzten. So ging es ganz gut.
Irgendwie hat es dann sehr früh gefunkt zwischen Nurgaian und uns. Als Zimmermeister kann ich die Komplexität seiner Arbeit und ihren Schwierigkeitsgrad sehr wohl bewerten. Sieht man darüber hinaus die Lebensumstände im ländlichen Ural, dann weiß man, dass es sich hier wirklich um eine persönliche Leistung handelt, ohne Unterstützung der bei uns inzwischen Alltag gewordenen Hightech-Maschinen. Ich war ganz gerührt, als er staunend vor einem Akkuschrauber stand, mit dem ich vorher ein dickes Loch ins Holz gebohrt hatte. „Elektromaschinen ja, aber mit Batterie? Sehr gut“. Ich weiß noch, wie wir als Lehrlinge von Handmaschinen mit Akku fantasiert haben und der ganze Kabelsalat auf dem Zimmerplatz damit Vergangenheit geworden wäre. Inzwischen gibt es die entsprechenden Akkumaschinen und der Kabelsalat auf dem Zimmerplatz gehört auch der Vergangenheit an, weil eigentlich keiner mehr von Hand zimmert, sondern alles von der Maschine kommt, so ist das eben.
Aber ich finde man darf dann auch mal staunen, wenn Einer das so richtig kann, nur mit seinem Kopf und seinen Händen.
Wir Handwerker sagen: „Du sollst nicht stehlen, außer mit den Augen“. Und so war es auch. Wir haben wirklich viel Spaß zusammen gehabt, uns gegenseitig zu zugucken wie der jeweils Andere die gleiche Aufgabe angehen würde. Beeindruckt hat mich auch seine leise Stimme, eher ungewöhnlich auf deutschen Baustellen. Man spürte die ganze Zeit einen Stolz, der sich nicht über Andere erhebt.
Nach einem wunderbaren Richtfest, auf dem Nurgaian eine tatarische Volksweisheit vortrug, kam der Abschied. Wir haben beide geweint, obwohl wir in der ganzen Zeit nie ein direktes Wort miteinander sprechen konnten.
Leider habe ich Nurgaian seitdem nicht noch einmal treffen können. Die Entfernung ist einfach zu groß. Die folgenden Jahre der Betriebsgründung und Selbstständigkeit, haben meine Reisetätigkeiten auf ein Minimum begrenzt.
Aber ich werde ihn nie vergessen, meinen einzigartigen Kollegen.
Die Freundschaft, die Igor, Alla und andere Beteiligte seitdem mit mir verbindet ist ein bleibendes Geschenk.
Damit sind wir bei Mathilde angekommen.
Mathilde ist ein Wort aus dem Rotwelsch, jenem mittelalterlichen Esperanto der Landstraße. Mathilde ist die Straße selbst und in der Tradition der Fahrenden ist sie so etwas wie eine mystische Persönlichkeit.
Denn wer sich auf eine Reise begibt, nicht eine Pauschaltour-all inclusive oder Europa in 14 Tagen, sondern schlimmstenfalls eine Flucht, oder vielleicht eine Pilgerfahrt, eine Interrail in den Achtzigern, die Fahrten der bündischen oder die Handwerkswanderschaft, sowas eben, der lernt Mathilde kennen.
Den meisten dürfte sie aus der inoffiziellen australischen Nationalhymne bekannt sein: „Waltzing Mathilda“, von Banjo Patterson. Der Ausdruck bezeichnet das Umherziehen der australischen Wanderarbeiter, der sogenannten Swagmen. Das Lied besingt ihre Not und Verzweiflung. „Walzen“ bedeutet im Rotwelsch reisen und „Waltzing Mathilda“ die Straße bereisen – na bitte.
Auch wenn in Australien das Wort Mathilda von der Bezeichnung des Reisebündels hergeleitet wird, so ist die Verbindung zum europäischen Rotwelsch doch offenbar.
Wer sich auf eine solche Reise begibt – oder begeben muss – ist einerseits auf sich zurückgeworfen – auch wenn er mit Anderen reist – und andererseits oft genug anderen Menschen, unter Umständen, ausgeliefert. Das macht verwundbar und zwingt zur Offenheit. Schon eine einfache Grippe kann auf einer solchen Reise bei begrenzten oder knappen Mitteln eine ziemliche Katastrophe sein.
Oft verläuft eine Reise nicht so wie man es vorher gedacht hat, doch macht dann am Ende Alles irgendwie einen Sinn. „Das ist Mathilde“ sagen dann die Gesellen.
Die Selbsterkenntnis kommt oft erst Jahre später. In der Zeit selbst empfindet man Vieles als von außen gesteuert und mystisch. Inzwischen glaube ich, dass man sich in dieser Zeit, von Allem befreit, unbewusst zu dem hingezogen fühlt, was einen bewegt. Und so scheint dann jeder zu erleben, was er erleben soll. Diese Erfahrung teile ich mit vielen gereisten Menschen.
Aber selbst für „Sesshafte“ ist es möglich Mathilde kennen zu lernen. Wer sich vermeintlich Fremden gegenüber offen verhält, wird feststellen, dass diese gar nicht so fremd sind. Wer sich die Neugier behält, die wir als Kinder einmal hatten, hat gute Chancen das eine oder andere Abenteuer zu erleben, ohne auf Reisen zu sein. Vielleicht ist es ja der reisende Handwerksgeselle, mit oder ohne Grippe, dem man Obdach gewährt, oder der/die Geflüchtete, den/die man einstellt.
Offenheit ist ein Abenteuer und natürlich erfährt man auch Enttäuschung. Ich muss allerdings sagen, wenn ich Bilanz ziehe, möchte ich nicht eines meiner Erlebnisse gegen die vermeintliche Sicherheit der Abgeschlossenheit tauschen.

Sascha Nitsche
Geschäftsführer der Zimmerei Nitsche, Köln


Exhibitions / Ausstellungen:

Geneva, Palais des Nations and the UN Commission, March 2000

Köln-Volkhoven, Simultanhalle, September 2000 – 2004, Syntopia sculpture

Köln-Gremberghoven, Georg-Simon-Ohm-Berufskolleg, since 2004, Syntopia sculpture

Publications / Publikationen:

Sacharow-Ross, Igor: sapiens/sapiens, Köln 2002. More Information

Igor Sacharow-Ross. Abgebrochene Verbindung, hg. v. Dieter Buchhart/Hans-Peter Wipplinger (Ausst.-Kat. Passau, Museum Moderner Kunst Passau – Stiftung Wörlen, 22.10.-03.12.2006), Nürnberg 2006.

Schütz, Sabine: Udmurtische Utopie. Igor Sacharow-Ross und sein Blockhaus, in: Kölner Skizzen, Heft 1/2003, hg. v. Dietmar Schneider, Köln 2003, 18-19.

Raap, Jürgen: Igor Sacharow-Ross. Sapiens/Sapiens II, in: Kunstforum International, Bd. 153, 2001, 359-360.

Buchhart, Dieter: Igor Sacharow-Ross. Das Resultat ist tot, es lebe der Prozess. Ein Gespräch von Dieter Buchhart, in: Kunstforum International, Bd. 175, 2005, 242-253.

Igor Sacharow-Ross. Der Zaun, in: Tarnung : Enttarnung. Kunstprojekte der Bundesgartenschau Potsdam 2001, hg. v. Elmar Zorn/Kai Vöckler, Potsdam 2001.Refugium, hg. v. Syntopie Labor (Ausst.-Kat. Moskau, Staatliches A. W. Schtschussew-Museum für Architektur, 20.06.-20.07.2003), Köln 2003.

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