2022 Schwarze Löcher und kosmische Evolution
2007 Untitled, Mischtechnik auf Stahl 92 x 174 x 0,2 cm
Teilnahme am 25. Bad Honnefer Winterseminars: „Schwarze Löcher und kosmische Evolution“
vom 27. – 29. Januar 2022 im Physikzentrum Bad Honnef zu kosmischen Evolution, sowie literarische und künstlerische Arbeiten zum Thema.
Syntopia von Igor Sacharow-Ross. Zur naturwissenschaftlichen Interpretation von Kunstwerken.
Von: Kurt Roessler
Der Künstler Professor Igor Sacharow-Ross ist dafür bekannt, dass seine Arbeiten Anregungen aus der Naturwissenschaft aufgreifen. Dabei spielt der Begriff der Syntopie eine Rolle, der in den 1990-er Jahren von dem Neurowissenschaftler Ernst Pöppel und der Physikerin Eva Ruhnau in den Internationalen Ba & Syntopie Symposien 1996–2001 entwickelt wurde. In Zusammenarbeit mit japanischen Forschern und Philosophen wurde er auf das Entstehen von Kreativität durch Verbindung materiellphysischer und geistigmetaphysischer Momente in raumzeitlichen oder logischen Orten angewandt (Pöppel 1997). Der Veranstalter hat ihn für die Kosmologie und als Schriftsteller für die Idee der „Lyrischen Landschaft“ benutzt (Roessler 1997, 2018). Bei Sacharow-Ross wurde Syntopie im letzten Jahrzehnt zum Kernbegriff seiner künstlerischen Arbeiten (Bauer 2020, Sacharow-Ross 2018, 2019). Im vorigen 24. Winterseminar hat er mit sieben Exponaten im literarisch-künstlerischen Teil und im Buch „Ursprung des Lebens“ wesentliche Beiträge geliefert (Sacharow-Ross 2020). Seine Arbeiten sind schon seit jeher auf das Geheimnis des Lebens konzentriert und passten somit für das vergangene Seminar zielgenau.
Es war ein Wagnis, ihn bezüglich des 25. Winterseminars zu „Schwarzen Löchern und kosmische Evolution“ um einen künstlerischen Beitrag zu bitten. Er sagte zu, stellte aus seinen Arbeiten eine Bilddatei zusammen, lud den Veranstalter am 17. April 2021 zu Kaffee und russischem Konfekt in sein Großraumatelier im Dampfkraftwerk/Umspannwerk in Köln-Ostheim ein und führte ihn zu seinen an den Wänden befindlichen Arbeiten. Schon am Kaffeetisch offenbarte sich ein schwarzes und ein weißes Loch (s.u.). Das macht die Versuchung klar, aus einer Assoziation des sprachlichen Begriffs mit einer zufälligen äußeren Form zu interpretieren. Das ganze Dilemma wird noch größer dadurch, dass der vielen Menschen unheimliche Begriff des Schwarzen Lochs die physikalische Wirklichkeit eines extrem massebeladenen Volumens nicht korrekt wiedergibt. Die populäre Interpretation, die in songtexts und simplen Lyrikversuchen ein Bild des Verlustes, der Leere und der seelischen Einsamkeit inszeniert, entfernt sich noch weiter von der Astrophysik. Es ist eben keine Leere in die man hineinfällt, sondern ein Ort der hineinzieht und das nicht in einen leeren Raum, sondern in einen bereits zum Bersten gefüllten.
Es galt aus den im Atelier vorhandenen Kunstwerken, die zwar im Syntopos von Natur und Naturwissenschaft, aber aus jeweils anderen Beweggründen entstanden waren, Arbeiten mit Bezug zu Schwarzen Löchern auszuwählen. Wegen der Eigenständigkeit künstlerischen Schaffens wird eine gewisse Bandbreite der Interpretation eines Kunstwerks allgemein akzeptiert, d.h. auch in einem anderen als dem ursprünglichen Bezug. Aus dem Blickwinkel der Syntopie muss dazu ein Gemeinsames auf beiden Interpretationsebenen vorliegen. Bei Sacharow-Ross ist das die kosmische Evolution, in deren Kontinuum die Schwarzen Löcher wie auch die Evolution des Lebens eine wichtige Rolle spielen. Nun ist das dennoch eher ein schwammiges Argument für ein „Alles in Allem“ als für eine spezifische Verbindung. Einen besseren Einstieg im Hinblick auf die Interpretation bildet die Arbeitsweise des Künstlers.
Zu Neujahr 2021 erhielt der Veranstalter von Sacharow-Ross die unten abgebildete Glückwunschkarte, die eine dunkle Scheibe mit einem hellen Rand, kleinen hellen Ringen auf der Scheibe, roten und grünen amöbenartigen Formen am rechten Rand und im Hintergrund eine regelmäßige Anordnung von Rechtecken zeigte, die der Veranstalter dem Zweck der Karte entsprechend zunächst als Aktenordner mit Jahreszahlen interpretierte. Die dunkle Scheibe mit dem hellen Rand sieht dem 2019 publizierten Bild des Schwarzen Loches M87* durchaus ähnlich. Jedenfalls ließ sich die Glückwunschkarte zunächst als Zusammenfassung der vergangenen Jahre und die Neuerweckung durch das Licht zum Beginn des neuen Jahres interpretieren.
Neujahrskarte 2021 von Igor Sacharow-Ross
2000/2007, Ein durchsichtiger Schleier legt sich dünn
Glas, Substrate mit Abstrichuntersuchungen
(Gewebeproben schwangerer Frauen) Karton und Holz,
420 x 305 x 6 cm
Sacharow-Ross erklärte die Hintergründe. Die Scheibe mit dem Ring ist ein polierter Spiegel, rundum umgeben von einer Neonleuchtröhre, viele Male über weitere polierte Flächen gespiegelt und gekreuzt, bis die Leuchtröhren auch als kleine Ringe in der Mitte erschienen, ein Lichtkunstwerk sui generis. Auf der Karte bilden auf dunkler Fläche aufgeklebte kleine Glasplättchen mit Abstrichen von Schwangerschaftstests junger Frauen den Hintergrund. Diese benutzt der Künstler als realistische Repräsentation des werdenden Lebens, weil für jedes Plättchen ein lebender Mensch in der Welt existiere. Die schwarze Scheibe ist dann der Akkumulationspunkt und der helle Ring, das alles durchdringende, belebende und formende Licht. Das ist reine Lichtmetapysik.
Dann aber zeigte der Künstler dem Veranstalter die große Wand von vier mal drei Metern mit mehr als fünftausend dieser Schwangerschaftstest-Plättchen, die ihm als Hintergrund für die Neujahrskarte und einer weiteren Bildinterpretation zum Leben gedient hatte (Bild vorige Seite). Dies ist eine Akkumulation der realen Zeugnisse des werdenden Lebens tausender Menschen. Die enorme Ansammlung der Testplättchen weist auch Momente der Schwarzen Löcher auf: die Ballung individueller Entitäten zu einem Gesamt, aus dessen neuer Dynamik der Prozess weitergeht. Hier sind materielle und metaphysische Bezüge verwoben. Der Zusammenfall der Einzelschicksale vernichtet aber trotz aller Blockhaftigkeit nicht die individuellen Informationen. Bei der Astrophysik ist es dagegen eine Frage, wie viele Informationen beim Eintritt in ein Schwarzes Loch – entgegen dem no-hair-theorem – erhalten bleiben. Jedenfalls nicht so viele, dass man danach eine Neujahrskarte schreiben könnte.
Das nächste Werk Les maximes (folgende Seite) besteht aus einem großen roten Rechteck. Der Titel entsteht bei Sacharow-Ross zufällig und besagt meist nichts für die Interpretation. Seine Idee war, das Ende des Lebens durch einen Infarkt darzustellen. Das weiße Loch im Gewirr der Blutbahnen ist keine düstere Sammelstelle für die Reste des Lebens, sondern ein helles geordnetes Zeichen, ein Durchgang zu einem anderen Bereich transzendenten Charakters. In der biologischen Wirklichkeit ist es verstopft mit Kalk und Blutgerinseln, hier aber ein Zeichen des Aufbruchs in Neuland. In seiner Paradoxie ist es ein Sinnbild einer metaphysischen Syntopie. Dieses weiße Loch überspringt die Verstopfungszone beim Herzinfarkt auf dem Weg zur Transzendenz. Auch die materielle Fülle des Schwarzen Lochs bleibt nicht in sich stehen, sondern führt in neuer Dynamik zum Fortgang der kosmischen Evolution.
2003 Les maximes, Graphit, Kunststoff, Acryl, Lackfarben,
103 x 147 x 4 cm
Das Bild ohne Titel auf der vorhergehenden Seite entspricht insofern einem Schwarzen Loch, weil es mit einer angedeuteten Rotationsbewegung die faserförmigen Bewegungen seiner Umgebung und auch die silbernen und goldenen von weit herkommenden Strahlen zu absorbieren scheint. Es besitzt eine Tiefe, in die hineineinfallen das darüber gelegte Gitter schützt. Das war das Bild, das Sacharow-Ross dem Verfasser bei seiner Suche als erstes empfahl. Dass das Loch viereckig war und man links davor eine weitere verwaschende und eher runde Struktur sieht, wie ein sattes, bereits aufgefülltes und zerstrahlendes Loch, störte die vereinnahmende Interpretation kaum.
Nach der Durchsicht von einigen anderen Objekten kamen wir an einem großen Bild vorbei (nächste Seite), das 2020 bereits als ein Hauptwerk von Sacharow-Ross auf dem Winterseminar zum Ursprung des Lebens im großen Hörsaal des Physikzentrums vor der Projektionswand aufgestellt war. Zunächst titellos, erhielt es damals den Titel Zum Leben 1. Der in das Bild ragende Gummihandschuh wurde als der suchende Paläobiologe interpretiert. In einem dunklen Schacht der durch konzentrische Kreise wie Baumringe der Vergangenheit umrundet wird, befinden sich helle Objekte, die an die Strukturmodelle von Biomolekülen erinnern und darunter noch feine Pausen von Schaltplänen: Sinnbild der Suche nach dem Beginn des Lebens auf der Erde vor etwa vier Milliarden Jahren.
„Teufel!“, sagte der Veranstalter, „Das ist nach der Plättchentafel das Beste zu Schwarzen Löchern, was ich bei Igor gesehen habe.“ Ein dunkles Loch mit Strukturen und Dynamiken im Inneren, umgeben vom Ereignishorizont mit kreisförmigen Linien, Andeutung eines Akkretionsflusses oder Jets und eben wieder der Wissenschaftler, der sich von außen an die Aufklärung begibt. Auf der Basis der naturwissenschaftlichen Grundkonzeption des Künstlers, könnte man es auf die Schwarzen Löchern beziehen. Wenn es nur nicht ein Jahr vorher für den Ursprung des Lebens reklamiert worden wäre. Aber ist das wirklich etwas ganz anderes? Fehlt den Paläobiologen und den Astrophysikern nicht die allgemeine Bezugsebene von Leben und Kosmologie in der Gesamtevolution? Deutet sie sich in beiden aus dem Geist der Syntopie gewachsenen, zwar konträren aber durchaus legitimen Interpretationen an? Die Frage, was bedeutet das Schwarze Loch für das Leben, wird ja tatsächlich gerade angegangen. Sie liegt nun nicht mehr außerhalb des einst festgelegten Rayons der facultas der Fachwissenschaftler. Der von Fakultäten unbegrenzte Künstler durfte aber immer schon eine solche Frage stellen.
(Zum Leben 1), 1990–2010, Mischtechnik/Dibond (Aluminium),
140 x 100 x 0,3 cm
Literaturnachweise:
Pöppel E & Stiftung Weimarer Klassik eds 1997, Int Symp Ba & Syntopie 1997 Weimar, Bedingungen von Komplexität und Kreativität (Reihe Die Einheit der Wirklichkeit). Bauer CA 2020, Ursprungsdesign: Die Kunstmetaphysik von Igor Sacharow-Ross, in Ursprung des Lebens (24. BHWS 2020), Roessler K ed, Bornheim, 166–172.
Roessler K 1997, Syndisziplinarität und Synchronie am Beispiel der Kosmochemie und der Literaturforschung, in (Pöppel 1997), Manuskript.
Roessler K 2018, Das bunte Kaleidoskop der Ewigkeit – Versuch einer Neudefinition, in Unendlichkeit, Ewigkeit & Der Mönch von Heisterbach (23. BHWS 2019), Roessler K ed, Bornheim, 99–104.
Roessler K 2019, Lyrische Landschaft, in (Sacharow-Ross 2018), [3].
Sacharow-Ross I ed 2018, Syntopie Symposium 21/04/2018, Syntopie Labor Köln.
Sacharow-Ross I ed 2019, Syntopie Symposium 01/06/2019, Syntopie Labor Köln
Sacharow-Ross I 2020, Bilder zum Leben, in Ursprung des Lebens (24. BHWS 2020), Roessler K ed, Bornheim, 159–165.
Publikation:
Kurt Roessler (Hg.), Schwarze Löcher und kosmische Evolution, Bornheim 2022